Die Tage sind kurz und lange Abende verlocken Dich zum Einmummeln auf der Couch? Du zündest Kerzen an und machst es Dir gemütlich? Probiere doch einmal aus, das Düstere und Geheimnisvolle der dunklen Jahreszeit bewusst draußen zu erleben. Hier kommt ein Vorschlag für ein ganz spezielles Abenteuer in der Dunkelheit.
Schwarzer Umhang, seltsamer Hut, in der einen Hand eine Hellebarde, in der anderen eine Laterne, um den Bauch hängt ein Horn: Der Nachtwächter wirkt ein wenig unheimlich, und dann gebietet er uns auch noch barsch, doch „auf Spucknähe“ näherzutreten. In der Verkleidung steckt Wolfgang Krein von der Interessengemeinschaft Schlüchterner Stadtführer, und er zögert nicht, den Gruseleffekt noch ein wenig zu verstärken: „Der Nachtwächter war ein unehrenhafter Beruf - wie der Henker“, erläutert er. Heute führt Krein eine Gruppe von 25 Leuten durch die Schlüchterner Altstadt. Ich bin ganz froh, dass so viele Menschen um mich sind, denn die dunklen Gassen sind sonst um diese Nachtzeit wie ausgestorben. Die Vollmondführungen finden einmal im Monat statt und Du kannst spontan ohne Anmeldung teilnehmen.
Der Nachtwächter beginnt umstandslos zu erzählen: Erstmals urkundlich erwähnt wurde Schlüchtern im Jahr 933, ist aber viel älter. Das Städtchen mit 17.500 Einwohnern im Bergwinkel von Spessart, Rhön und Vogelsberg steckt voller spannender Geschichte(n). Der Nachtwächter macht uns auf Details aufmerksam wie das goldene Hofbäckerschild am Eckebäcker-Haus, einem prächtigen Fachwerkbau aus dem Mittelalter. „Kaiser Wilhelm II. ernannte den hiesigen Bäcker zum königlich-kaiserlichen Hofbäckermeister. Er liebte sein Gebäck und kam auf den Reisen zur Kur in Bad Homburg eigens deshalb in Schlüchtern vorbei.“ Damals sei das was ganz Besonderes gewesen. Nicht mal eine Stadtmauer habe es gegeben in dieser „Arme-Leute-Gegend“. Die einzige alte Mauer umfriedete das Benediktinerkloster aus dem 8. Jahrhundert, zu dem wir einige Stufen hinaufsteigen.
Melodische Klänge hinter alten Mauern
Im bleichen Mondlicht ragen die geschichtsträchtigen Gemäuer drohend in den schwarzen Himmel. Sie beherbergen heute das Ulrich-von Hutten-Gymnasium und die Kirchenmusikakademie der evangelischen Kirche. Es ist still, außer der Gruppe ist keine Menschenseele auf dem Gelände. Da braucht es wenig Fantasie, um die Geister der Vergangenheit zu spüren. Der Nachtwächter holt mich zurück in die Gegenwart. Er schwärmt von den „großartigen Konzerten“ der Musizierenden, die an der in ganz Deutschland bekannten Akademie lernen und auch an den Orgeln der Schlüchterner Kirchen üben dürfen. „Da solltet ihr unbedingt mal hingehen!“
In den Altstadtgassen lenkt Wolfgang Krein unseren Blick auf die glänzenden Gedenksteine im Pflaster. 43 solche „Stolpersteine“ sind bisher für Jüdinnen und Juden verlegt worden, die von den Nationalsozialisten vertrieben und ermordet wurden. „Die Stadtverwaltung setzt sich dafür ein, an ihr Schicksal zu erinnern“, sagt er. „Wir Stadtführer sind stolz, dass dieser Teil der Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät.“
Gesang unterm Vollmond und mystische Gassen
In Gedanken versunken laufen wir weiter durch schmale, düstere Straßen, biegen um eine Ecke – da steht der „Supermond“ riesengroß am Himmel und gießt sein fahles Licht über die Stadt. Der Nachtwächter prüft unsere Textsicherheit, was Matthias Claudius‘ „Abendlied“ angeht, und dann singt die Gruppe tatsächlich gemeinsam „Der Mond ist aufgegangen“ – ein bisschen peinlich ist das, aber irgendwie auch schön.
Schließlich verrät uns Wolfgang Krein noch eine Anekdote, mit der er das Horn an seinem Gürtel erklärt. „Der Nachtwächter tutet oder singt, damit der Bürgermeister weiß, wo er ist – nicht dass er sich heimlich in eine Kneipe schleicht.“ Ob das einer historischen Überprüfung standhält? Unwichtig. Wir schweigen und genießen die mystische Atmosphäre, in die der Vollmond die Gassen und Gemäuer taucht – bevor wir uns zum Aufwärmen ein Gasthaus in der Innenstadt suchen.